Sicher fahren in Indien

DRIVING IN INDIA ist ein Crashkurs in Harakiri, ein klares Bekenntnis zur Reinkarnation, die Streichung des Begriffs „StVO“ aus deinem Wortschatz, die Unterwerfung unter das Recht des Stärkeren. Im folgenden will ich Dir zehn wichtige Grundlagen zum Überleben im indischen Verkehr näher bringen für den Fall, dass Du beabsichtigst, in dieses Land zu reisen:

1. Indische Verkehrsregeln basieren hauptsächlich auf der Grundlage des KARMA, also des Glaubens, dass das Schicksal des Menschen nach dem Tode von seinen Taten in seinem vorangegangenen Leben abhänge, was der indische Fahrer als Aufruf zu einem mutigen und leidenschaftlichen Fahrstil versteht. Er gibt sein Bestes und vertraut den Leistungen seiner Versicherungsgesellschaft.

2. Die erste Frage, die Du dir stellensolltest, lautet: „FAHRE ICH LINKS ODER RECHTS?“ Die Antwort heißt: „Sowohl als auch.“ Grundsätzlich beginnt man am linken Straßenrand, so lange dieser nicht belegt ist. In diesem Fall wendet man sich nach rechts, bis diese Seite ebenfalls dicht ist. Danach nützt man jede freie Lücke aus, nach dem Muster des Rösselsprungs im Schachspiel. Vertraue einfach Deinem Instinkt, definiere Dein Fahrziel und gib Gas. Lass Dich niemals durch Verkehrszeichen ablenken, dies schadet der Konzentration und verursacht unvorhersehbare Probleme. Die meisten Fahrer „fahren“ nicht, sondern peilen mit ihrem Fahrzeug das Fahrziel an. Sei daher nie mutlos oder unschlüssig, denn den übrigen Verkehrsteilnehmern ergeht es nicht besser als Dir – es sei denn, sie glauben an die Wiedergeburt.

3. Halte niemals vor FUSSGÄNGERÜBERGÄNGEN an, nur weil einige Erleuchtete meinen, sie könnten die Straße überqueren. Tust Du es dennoch, dann nur, wenn Du gerne von hinten gestoßen wirst. Fußgänger haben gelernt, nur dann überzusetzen, wenn der Verkehr zum Erliegen gekommen ist, weil ein Minister in der Stadt ist. Wenn dennoch ein Erleuchteter die Straße überquert, wird den Toten niemand beweinen.

4. Die Betätigung der HUPE ist in Indien kein Zeichen des Protests wie in anderen Ländern. Inder hupen aus Freude, Trauer, Verliebtheit, Frustration, schierer Lust am Klang oder auch, um einer in der Fahrbahnmitte meditierenden heiligen Kuh zu huldigen.

5. NACHTFAHRTEN sind in Indien ein atemberaubendes Erlebnis, ähnlich dem Russischen Roulette, da Du nie weißt, wie viele der übrigen Verkehrsteilnehmer „geladen“ haben. Was wie der erste Schimmer des Sonnenaufgangs am Horizont erscheint, stellt sich zumeist als Truck heraus, der gerade versucht, seinen Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Kurz vor der Begegnung solltest Du in den neben der Straße liegenden Acker ausweichen, bis die Erscheinung vorüber ist. Verzichte auf Warnungen mit der Lichthupe, denn das einzige Erleuchtete im Truck ist der Fahrer, dessen zerebrale Funktionen sich nach dem Genuss einer Flasche Arrak beim letzten Halt gegen Null bewegen. Lastwagenfahrer sind die James Bonds von Indien, sie haben die Lizenz zum Töten. Oft bemerkst Du einen mächtigen Lichtkegel einen Meter über dem Boden – das ist sicher kein modernes Superbike, sondern ein einäugiger Truck. Meistens ist das rechte Licht kaputt. Es könnte zwar auch das linke sein, aber vermeide es lieber, Dich zwecks Überprüfung zu weit zu nähern – Du könntest Deinen Standpunkt vermutlich nur mehr posthum erklären.

6. Gelegentlich kommt Dir ein hell erleuchtetes Etwas entgegen, das wie ein UFO wirkt mit seinen vielfarbigen Blinklichtern und den fremdartigen Klängen, die aus seinem Inneren an Dein Ohr dringen. In Wahrheit ist dies ein erleuchteter Bus, voll mit seligen Pilgern, die ihre Psalme singen. Diese Pilger reisen im Höllentempo, denn sie suchen den Kontakt zum Allmächtigen. Oftmals gelingt ihnen dies auch.

7. AUTORIKSCHA (TUK-TUK): Einstmals aus einer Kollision zwischen Fahrrad und Kleinwagen hervorgegangenes, vorwiegend als Taxi eingesetztes dreirädriges Vehikel. Tuk-Tuks transportieren zugleich Eisenstangen, Gasflaschen und Passagiere im dreifachen Gewicht und Volumen des Fahrzeugs, auf unberechenbarem Kurs. Nach sorgfältiger geometrischer und statischer Berechnung werden zusätzlich Kinder in diese Fahrzeuge geschlichtet und gefaltet, so lange, bis die äußersten Kinder nicht mehr mit der Karosserie in Verbindung sind. Danach werden deren Schultaschen zur Erhöhung der Stabilität der Fuhre in die mikroskopisch kleinen freibleibenden Lücken gestopft, wodurch Kollisionen mit anderen Fahrzeugen keine gröberen Schäden am Tuk-Tuk bewirken. Selbstverständlich zahlen die äußeren Kinder nur den halben Fahrpreis. Autorikschafahrer benötigen keinen Führerschein, müssen aber vor Ausfolgung ihrer Lizenz glaubhaft machen, dass sie das Wagenrennen aus „Ben Hur“ gesehen haben.

8. Indische MOPEDS sehen aus wie Öldosen auf Rädern und klingen wie elektrische Rasierapparate. Sie kommen mit einem Esslöffel Benzin fünfzig Kilometer weit und fahren mit einer Geschwindigkeit an der Kippgrenze. Da die indischen Straßen meist nur im mittleren Drittel ihrer Gesamtbreite geteert sind und die Mopedfahrgestelle das Befahren der holprigen Schotterbankette nicht erlauben, haben sie die Tendenz, in der Fahrbahnmitte zu reisen. Aufgrund ihrer niedrigen Geschwindigkeit fahren sie um ein entgegenkommendes Fahrzeug meist nicht herum, sondern unter diesem durch, wodurch sie quasi vom Asphalt „gemoppt“ werden.

9. EINBAHNSTRASSE: diese Sonderform eines Verkehrsweges wurde von Ministerialräten des indischen Verkehrsministeriums erfunden, um Leben in ihre wenig abwechslungsreiche Arbeit zu bringen. Löse Dich von Enge der rein buchstäblichen Definition und fahre einfach konsequent in einer Richtung durch. Die metaphysische Definition der Einbahnstraße stellt nämlich klar, dass Du niemals gleichzeitig in zwei Richtungen fahren kannst! So fahre einfach wie Du willst, im Retourgang jedoch nur, wenn es wirklich nicht anders geht.

10. LINIENBUSSE: Da Busfahrer nach der sogenannten Überlast-Formel bezahlt werden (X Rupien per KG Passagier), hängen die Mitfahrer zur Rushhour wie Trauben aus dem Bus. Wenn Dir ein Bus in einer Kurve entgegenkommt, dessen periphere Passagiere sich mit ihren Armen an jene Passagiere klammern, deren Hände wiederum die Trittbretter des Fahrzeuges festhalten, vertraue darauf, dass aufgrund der durch die Überbeladung immensen Bodenhaftung des Busses seine Bodenreibungskraft höher ist als die Zentrifugalkraft. Dennoch ist es ratsam, immer einen Seitenabstand im Ausmaß von drei Passagierlängen einzuhalten.

Wenn Du nach all diesen Erläuterungen immer noch in Indien Motorradfahren willst, so tu‘ dies zwischen acht Uhr abends und elf Uhr vormittags – also wenn die Polizisten nach Hause gegangen sind. In dieser Zeit kann der indische Bürger den ihm laut Verfassung garantierten „FREEDOM OF SPEED“ ohne Einschränkungen genießen.

Wenn Du dich an die o.a. zehn Gebote hältst, wirst Du dein Scherflein dazu beitragen, dass die Verkehrstotenrate in Indien weiterhin unter jener der USA oder vergleichbar großer Länder liegt.

Peter Weis
Austria